Ein Ende. Ein Anfang.

20150101_140200


Wenn ich ganz genau hinschaue, mich vor dem Waschbecken im Badezimmer ganz weit nach vorne beuge, noch ein bisschen weiter, noch ein wenig, so weit, bis ich mit der Nasenspitze gegen den Spiegel stoße, wenn ich dann einen Schritt zurücktrete, nicht nach unten sehe, die Zahnpastaflecken auf dem Spiegel ignoriere, durch sie hindurch einfach direkt hinsehe – dann sehe ich sie klar und deutlich. In feinen Linien ziehen sie sich über die Stirn, ordentlich waagrecht aufgereiht, und der erste Impuls, mal in der Abstellkammer nach dem Bügeleisen zu kramen, verfliegt schnell, dann der zweite, der sagt, zieh die Haut doch mal mit den Händen glatt, vielleicht bringts ja was. Was für ein Unsinn. Da sind sie also noch, und sie zeigen sich wenig, man muss schon richtig hinsehen, doch sie werden bleiben, anders als die blauen Flecken rund um den Bauchnabel, so viele tiefblaue Flecken, täglich kam ein neuer hinzu, zuerst erscheinend als roter kleiner Punkt, amateurhaft mit einem viel zu stark haftenden Pflaster bedeckt, das beim Abziehen die Haut langzieht und kleine Härchen mit sich reißt, und alle diese Flecken, alle waren sie so schnell wieder weg, nicht ein einziges Beweisfoto habe ich von ihnen, und vielleicht brauche ich das auch nicht, vielleicht werde ich mich an diesen Anblick ewig zurückerinnern.


Und die Linien auf der Stirn und die vielen neuen grauen Haare und die vielen losen roten Haare in der Haarbürste, das sind die Bilder, die bleiben, die permanent sind. Die sind täglich live verfügbar, und sie erinnern mich daran, was das vergangene Jahr mir schenkte, so viele Sorgen, so viele Kämpfe und am Ende nur dieser eine Gewinn, und mehr wollte ich ja sowieso nicht haben, das ist völlig in Ordnung so und sowieso mehr als genug. Die Linien auf der Stirn, die mich daran erinnern, wofür ich in diesem verdammt harten Jahr jeden Morgen aufgestanden bin, wofür ich die Zähne zusammengebissen und diese ganze Sache verdammt nochmal durchgezogen habe.


Und ja, ein bisschen habt ihr alle Recht gehabt, als ihr mir sagtet, zum tausendsten Mal einreden wolltet, dass ja alles gut werden wird, das muss ich jetzt vielleicht zugeben, auch wenn das nichts daran ändert, dass ihr Idioten seid und eigentlich keine Ahnung habt, wovon ihr da überhaupt so überzeugt wart.


Das Jahr hat mich alt gemacht, grauhaarig und ein bisschen mürbe, und doch irgendwie stärker als zuvor. Ich finde, das ist eine annehmbare Bilanz, sagen zu können, man geht aus einem Jahr stärker hinaus als man hineingegangen ist. Das ist vielleicht mehr wert als der tausendste Vorsatz, ab jetzt nur noch Äpfel statt Schokolade zu essen oder nur noch Sex mit Leuten mit vorzeigbarem Musikgeschmack zu haben. Da werden Linien und Haare und Flecken plötzlich zu Trophäen, die man herumzeigt als Beweis, dass man doch mehr erlebt hat als alle meinen könnten, auch wenn man doch eigentlich nach Feierabend immer nur Pizza bestellt und sich mit viel zu vielen Folgen House of Cards der Realität entzogen hat. Die großen Kämpfe, die großen Kriegsschauplätze sind eben doch oft genau dort, wo niemand hinschaut.


Ja, und jetzt. Ist plötzlich schon 2015 und wir schauen um uns herum und zeigen anklagend auf die Linien auf unserer Stirn, wie leere Seiten in einem halbvollen Poesiealbum, hey du, schreib doch mal was rein, und dann gibt es in diesem einen Moment so erschreckend wenig zu beklagen, dass man fast unglücklich darüber wird.


Wenn ich ganz genau aus dem Fenster sehe, oder auch nicht ganz so genau, denn es ist zu offensichtlich, dann sieht die Welt heute der Welt gestern noch ziemlich ähnlich, und der Welt vorgestern auch und so weiter. Der große Knall vollzieht sich im Kleinen, und das ist schon in Ordnung so. Da liegen noch so viele leere Seiten ohne Linien, die vollbeschrieben, bekritzelt und bemalt werden wollen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich schon so eine Ahnung, was ich damit anfangen werde.

Hinterlasse einen Kommentar