Ein Ende. Ein Anfang.

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Wenn ich ganz genau hinschaue, mich vor dem Waschbecken im Badezimmer ganz weit nach vorne beuge, noch ein bisschen weiter, noch ein wenig, so weit, bis ich mit der Nasenspitze gegen den Spiegel stoße, wenn ich dann einen Schritt zurücktrete, nicht nach unten sehe, die Zahnpastaflecken auf dem Spiegel ignoriere, durch sie hindurch einfach direkt hinsehe – dann sehe ich sie klar und deutlich. In feinen Linien ziehen sie sich über die Stirn, ordentlich waagrecht aufgereiht, und der erste Impuls, mal in der Abstellkammer nach dem Bügeleisen zu kramen, verfliegt schnell, dann der zweite, der sagt, zieh die Haut doch mal mit den Händen glatt, vielleicht bringts ja was. Was für ein Unsinn. Da sind sie also noch, und sie zeigen sich wenig, man muss schon richtig hinsehen, doch sie werden bleiben, anders als die blauen Flecken rund um den Bauchnabel, so viele tiefblaue Flecken, täglich kam ein neuer hinzu, zuerst erscheinend als roter kleiner Punkt, amateurhaft mit einem viel zu stark haftenden Pflaster bedeckt, das beim Abziehen die Haut langzieht und kleine Härchen mit sich reißt, und alle diese Flecken, alle waren sie so schnell wieder weg, nicht ein einziges Beweisfoto habe ich von ihnen, und vielleicht brauche ich das auch nicht, vielleicht werde ich mich an diesen Anblick ewig zurückerinnern.


Und die Linien auf der Stirn und die vielen neuen grauen Haare und die vielen losen roten Haare in der Haarbürste, das sind die Bilder, die bleiben, die permanent sind. Die sind täglich live verfügbar, und sie erinnern mich daran, was das vergangene Jahr mir schenkte, so viele Sorgen, so viele Kämpfe und am Ende nur dieser eine Gewinn, und mehr wollte ich ja sowieso nicht haben, das ist völlig in Ordnung so und sowieso mehr als genug. Die Linien auf der Stirn, die mich daran erinnern, wofür ich in diesem verdammt harten Jahr jeden Morgen aufgestanden bin, wofür ich die Zähne zusammengebissen und diese ganze Sache verdammt nochmal durchgezogen habe.


Und ja, ein bisschen habt ihr alle Recht gehabt, als ihr mir sagtet, zum tausendsten Mal einreden wolltet, dass ja alles gut werden wird, das muss ich jetzt vielleicht zugeben, auch wenn das nichts daran ändert, dass ihr Idioten seid und eigentlich keine Ahnung habt, wovon ihr da überhaupt so überzeugt wart.


Das Jahr hat mich alt gemacht, grauhaarig und ein bisschen mürbe, und doch irgendwie stärker als zuvor. Ich finde, das ist eine annehmbare Bilanz, sagen zu können, man geht aus einem Jahr stärker hinaus als man hineingegangen ist. Das ist vielleicht mehr wert als der tausendste Vorsatz, ab jetzt nur noch Äpfel statt Schokolade zu essen oder nur noch Sex mit Leuten mit vorzeigbarem Musikgeschmack zu haben. Da werden Linien und Haare und Flecken plötzlich zu Trophäen, die man herumzeigt als Beweis, dass man doch mehr erlebt hat als alle meinen könnten, auch wenn man doch eigentlich nach Feierabend immer nur Pizza bestellt und sich mit viel zu vielen Folgen House of Cards der Realität entzogen hat. Die großen Kämpfe, die großen Kriegsschauplätze sind eben doch oft genau dort, wo niemand hinschaut.


Ja, und jetzt. Ist plötzlich schon 2015 und wir schauen um uns herum und zeigen anklagend auf die Linien auf unserer Stirn, wie leere Seiten in einem halbvollen Poesiealbum, hey du, schreib doch mal was rein, und dann gibt es in diesem einen Moment so erschreckend wenig zu beklagen, dass man fast unglücklich darüber wird.


Wenn ich ganz genau aus dem Fenster sehe, oder auch nicht ganz so genau, denn es ist zu offensichtlich, dann sieht die Welt heute der Welt gestern noch ziemlich ähnlich, und der Welt vorgestern auch und so weiter. Der große Knall vollzieht sich im Kleinen, und das ist schon in Ordnung so. Da liegen noch so viele leere Seiten ohne Linien, die vollbeschrieben, bekritzelt und bemalt werden wollen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich schon so eine Ahnung, was ich damit anfangen werde.

I don’t have the drugs to sort it out.

op

 

Das mit dem Schreiben, das läuft manchmal nicht. Wenn die Stille um sich boxt und die Ereignisse Purzelbäume schlagen. Der Optimismus, das positive Denken, das liegt mir manchmal nicht. Das macht sich gerne selbstständig. Verflüssigt sich, gleitet durch zwei Finger abwärts, sickert in den Erdboden, verschwindet spurlos. Taucht irgendwann einfach wieder auf, wenn man nicht damit gerechnet hat. Man kann es nicht immer einfach bei sich behalten.

 

Den eigenen Kopf in Watte packen, einfach abtauchen. Vollnarkosen sind voll mein Ding. Sich ausgeliefert fühlen auf einem eiskalten OP-Tisch, die Beine aufgestellt, die Infusionsnadel im Arm, die Atemmaske vor dem Gesicht, „Jetzt atmen Sie einfach mal tief ein und aus“, einatmen, ausatmen, weg. Aufwachen, von sehr weit weg sagt jemand meinen Namen. Alles gut gegangen, alles wie es soll. „Ihr Mann kann Sie jetzt abholen.“ Der Mann holt mich jetzt ab. Zuhause nur Leere im Kopf. Zuhause plötzlich die Erinnerung an das letzte Mal Krankenhaus, vor einem Jahr, die letzte Narkose. Die Erleichterung, endlich wegzudriften, nicht miterleben zu müssen, wie der tote Embryo aus dem eigenen Unterleib gelöffelt wird. So weit weg alles, eigentlich, und doch noch ganz schön nah. Some infinities are bigger than others. Die knopfäugige Praktikantin, mit starrem Blick in der Ecke stehend, den Blick zwischen meine Beine geheftet, während drei Ärzte unabhängig voneinander bestätigen, dass da nichts mehr zu retten ist. Die schwarzen Knopfaugen, die regelmäßig nachts in meinen Träumen auftauchen, mich anstarren, mich mustern, stumm und emotionslos, einfach nur da. Kein Herzschlag, alles wie gewohnt. Aufwachen, schnell vergessen.

 

Es ist ja nicht so, dass man unbedingt traurig sein muss. Die Schlacht ist ja immer nur so mittelverloren. Wir geben nicht auf, wir geben nur ab. Atemberaubende Akrobatik, um die Kurve zur Hinwendung zum Ganzen zu kriegen. Jeden Tag aufs Neue die schmerzhafte Konfrontation mit den eigenen Unzulänglichkeiten erleben, als sei das eine Serie, von der es keine Folge zu verpassen gilt. Jeden Tag positiv erleben, das Leben ist so nett zu uns, man muss es auch so wahrnehmen, dann kommt das schon alles hin, dann geht die Rechnung auf, bis auf die allerletzte Nachkommastelle. Alles korrekt, wenn auch nur im Inkorrekten. Das ist das Gute an Glück: Es verlangt, gefühlt zu werden.

 

Vergiss doch mal alles, was du weißt. Steh doch mal morgens auf und fang nochmal von vorne an. Mach doch einfach mal das, was du willst. Sitz nicht immer nur daneben. Sei nicht immer der Schwarzfahrer in deinem eigenen Leben. Such nicht die richtigen Lösungen in den falschen. Hör auf mit der permanenten Selbstzensur. So hast du dir das alles nicht vorgestellt, aber du hast keine Wahl mehr. Das Leben als Wunschkonzert, nur mit der falschen Band.

 

Die Narkose, der blaue OP-Kittel, die Infusionsnadel. Die Infusion, in den Arm laufend. Tropf, tropf, tropf. Positives Denken, die flüssige Version, jetzt bitte. Die Gelegenheit für eine intravenöse Verabreichung – nie war sie günstiger.

 

Wenn es doch so einfach wäre.

This is my design.

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Diese Sonntage, die man nur mit sich verbringt, irgendwie. Auch wenn da noch jemand ist, der dir Kaffee macht und Kuchen bringt und dem du durchs Haar streichst und froh bist, dass er da ist. Diese Zeit, in der man dennoch die Interaktion mit Menschen nur schlecht verkraftet, irgendwie. In der jedes Wort störend ist. In der man das Telefon klingeln lässt. In der man selbstvergessen den Blumen beim Welken zusieht, während der Tee aus der Tasse dampft und die Brillengläser beschlagen lässt, was egal ist, weil man sowieso nirgendwo hinsieht. 

Da gibt es nicht viel zu erzählen, über diese Tage. Diese Tage, an denen man versucht, sich von sich selbst zu distanzieren, weil da innendrin zu viel los ist, von dem man gar nichts wissen will. Man sitzt unter dem schrägen Dachfenster, direkt darunter, über einem die Glasscheibe, von außen nass, von innen ein bisschen beschlagen, weil man nach oben sieht und zu viel atmet und weil der Tee vor sich hin dampft, und da ist nicht viel erkennbar draußen, eigentlich gar nichts, denn der Himmel ist grau und alle Vögel haben sich verkrochen und die Flugzeuge sind zu weit oben. Und alles, was man hört, ist das monotone Regengeräusch. Tropfen auf der Fensterscheibe. Immer leiser werdend, weil der Regen aufhört. 

Das eigene Selbst ein Abziehbild, mit Spucke in ein frisches Sammelalbum geklebt, vorne auf die erste Seite, die folgenden Seiten noch ganz leer, und niemand da, der mit dir tauschen will, die doppelten Bilder, die man loswerden will, die wollen andere irgendwie auch nie haben. Um so verwunderlicher ist es, dass man sich irgendwann einfach im eigenen Leben wiederfindet, im eigenen Sammelalbum, so tief verwurzelt mit den eigenen selbst gewählten Umständen, rückblickend wird klar, es stimmt was sie sagen, du allein bist der Designer deines eigenen Lebens, du entwirfst dir deine eigene Welt, nur du allein entscheidest, was darin Platz findet und was nicht, welche Plätze im Sammelalbum mit Bildern gefüllt, welche einfach leer bleiben. Du musst den Dingen ihren Platz zuweisen, sie ins Arrangement integrieren, sonst verlieren sie sich im Nichts und fallen aus dem Rahmen, sonst bleibt dein Album ewig leer, auch wenn die Seiten ausbleichen, zerfleddern, einfach so vom Leerbleiben. Dann sitzt du da mit deiner Tasse Tee und der, der dir Kaffee macht, ist da nicht mehr. 

Woanders ist so vieles glattgebügelt, alles so perfekt, und ich hadere nicht damit, dass bei mir immer alles Falten wirft. Irgendwas ist immer zu groß, zu klein, in den Ecken wellt sich der Stoff, blättert die Farbe ab, aber so soll das alles. Was nicht passt, wird… ach. Wer entscheidet überhaupt, was nicht passt. This is my design. Allzu oft drücke ich ein Auge zu, wo andere nochmal genau hinsehen, nochmal neu machen, von vorne anfangen, alles hinschmeißen weil alles kacke aussieht, weil ein anderer sagt, so gehört das aber nicht. 

Bei mir gehört das so. Alles. Alles irgendwie falsch und irgendwie richtig, wenn man es aus dem entscheidenden Blickwinkel betrachtet.

Wenn ich nach oben sehe, hat der Regen nicht aufgehört, sondern ist zu Schnee geworden, der die Scheibe zu bedecken beginnt. Keine Vögel, keine Flugzeuge. Alles still.  Diese Sonntage. 

 

Happy honeymoon.

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Pausenknopf. Pausenbrot. Pausentod.  

Einfach mal still sein innendrin, ein Urlaub vom Schreiben. Stellte ich doch einst fest, dass man schreibend niemals Urlaub hat, dass die Finger niemals still neben Stift und Papier liegen können, so belehrt mich die Zeit eines Besseren.

16 Stunden in einem Flugzeug, 8 hin, 8 zurück, kein einziges Wort zu Papier gebracht, stattdessen Ablenkung, mit schlechten und mit guten Filmen, mit sinnlosen Zeitschriften, Halbschlaf und Dosenbier (ja. Im Flugzeug schmeckt das besonders gut). Die Zeit zwischen zwei Flügen in der vielleicht großartigsten Stadt der Welt verbringen, sieben Tage lang, und dennoch oder genau deshalb: Stundenlang in Cafés sitzen, in Soho, in Brooklyn, Frühstück im East Village (I miss you, Pumpkin Pancakes..), Spaziergänge im Central Park bei klirrender Kälte, und nirgendwo auch nur ein einziger Griff zum Notizbuch. Es sind Flitterwochen, eine Flitterwoche, und ich habe nicht das Schreiben geheiratet. 

Und jetzt. Drei Wochen später. Wir nähern uns langsam wieder an, Wort um Wort, Buchstabe um Buchstabe. Da geht wieder was.
So long, Schreibblockade. Bis demnächst. 

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Random stranger at a glory hole

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Ich lege meinen Körper auf die oberste Stufe der Treppe meines Bewusstseins. Keinen Schritt weiter. Irgendjemand ist immer da, der dich über die Schwelle stoßen will. Irgendjemand ist immer da, der dir sagen will, was du zu fühlen hast. Irgendjemand weiß immer besser als du, was gut für dich ist.

Der Sturm hat sich gelegt. Der November kommt und bleibt und ich bemerke es kaum. Ich bin so wach, innendrin, alles ist so aufgedreht, alle Sinne, alle Körperfunktionen, alles funktioniert, irgendwie, mehr als nur irgendwie. Es ist okay, sagt der Kopf, sagt der Bauch, sagt das Herz. Es ist in Ordnung, es ist mehr als das. Die Augen offen für die Welt.

Man vergisst so leicht, was man hat, wenn man sich nur darauf fokussiert, was man nie haben wird. Man vergisst so leicht, wie glücklich sein geht, wenn man es gar nicht sein will. Man vergisst so leicht, wie man zwischen Fremden und Freunden unterscheidet, wenn Fremde so gut zuhören. Man erschrickt so leicht vor der eigenen Tristesse, die sich unter die Haut setzt und sich nur mühsam wieder abstreifen lässt. Man wird so schnell müde bei dem Versuch, sich wieder gut zu fühlen.

Es kann so einfach sein, glücklich zu sein. Und so schwer, sich von Träumen zu trennen, Pläne einfach umzuschreiben, ein leicht dahingesagtes „Dann eben nicht“, kein trotziges, eher ein schulterzuckendes, ein resignierendes, ein „Dann eben nicht“, das weiß, da gibt es noch mehr, das man planen kann, finge man nur ein Mal damit an.

Alles ist so normal. Der November ist ein trister Monat, in jedem einzelnen Jahr, er ist zuverlässig, er enttäuscht uns nie. Winter is coming. Alles ist grau, so grau wie es innendrin so lange aussah, so hängen jetzt die Wolken tief und schwer über der Stadt, es ist dunkel und nass, die Menschen husten vor sich hin und ärgern sich über volle Lebkuchenregale im Supermarkt, die den Weg zu den hochprozentigen Alkoholika versperren. Mützen werden über Köpfe gestülpt, Schals um Hälse gewickelt, Nasen in Taschentüchern vergraben.

Und ich stehe mittendrin und irgendwie kümmert es mich kaum. Mein eigener, persönlicher Winter, er war so lang, er hinterlässt tiefe Spuren in meinem Kopf und Furchen um meine Augen. Kleine Eiszapfen zwischen meinen Wimpern als tapfere Zeitzeugen. Ich bin nicht müde, ich bin hellwach. Es kann so einfach sein, glücklich zu sein. 

In the midst of winter, I found there was, within me, an invincible summer.“ Albert Camus.